Der Weg der Armen
(Nach verschiedenen Erzählungen)
Das bekannte Adventslied „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ entstand in der schwierigen Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648). Äußere Sicherheit und Wohlstand können also nicht der Antrieb zu Pfarrer Weissels Lied gewesen sein. Der Grund dafür muss tiefer gelegen haben. Er kann sich nur in einem Glauben finden, der seiner Sache gewiss ist, der sich freuen kann, auch wenn die äußeren Umstände dazu wenig Anlass bieten.
Georg Weissel wurde 1590 in Domnau/Ostpreußen geboren. In Königsberg studierte er Musik und Theologie. Nach dem Studium war er Rektor in Friedland/Ostpreußen. Mit 33 Jahren wurde ihm die Pfarrstelle an der neuerbauten „Alt-Rossgärtschen Kirche“ in Königsberg angeboten. Georg Weissel nahm dieses Angebot an. 23 Lieder sind von ihm bekannt. Er starb am 1. August 1635.
Über die Entstehung seines bekannten Adventsliedes „Macht hoch die Tür“ berichtet Weissel selbst: „Neulich, als der starke Nordoststurm von der nahen Samlandküste herüberwehte und viel Schnee mit sich brachte, hatte ich in der Nähe des Domes zu tun. Die Schneeflocken klatschten den Menschen auf der Straße gegen das Gesicht, als wollten sie ihnen die Augen zukleben. Mit mir strebten deshalb noch mehr Leute dem Dom zu, um Schutz zu suchen. Der freundliche und humorvolle Küster öffnete uns die Tür mit einer tiefen Verbeugung und sagte: 'Willkommen im Hause des Herrn! Hier ist jeder in gleicher Weise willkommen, ob Patrizier oder Tagelöhner! Sollen wir nicht hinausgehen auf die Straßen, an die Zäune und alle hereinholen, die kommen wollen? Das Tor des Königs aller Könige steht jedem offen.'
Nachdem ich den Schnee von meinem Gewand abgeschüttelt hatte, klopfte ich dem Küster auf die Schulter und sagte: ‚Sie haben da eben eine ausgezeichnete Predigt gehalten!‘ Wir blieben im Vorraum des Domes, bis sich das Unwetter ein wenig legte. In der Zwischenzeit sah ich immer wieder zu dem hohen Portal, und da kamen mir die ersten Verse in den Sinn. Zu Hause beendete ich es in kurzer Zeit: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit ...“
Das war im Jahre 1623 in Königsberg. Krieg, Hunger und Seuchen waren nicht spurlos an der Bevölkerung vorübergegangen. Wohlstand fand man vielleicht noch in den Häusern der alteingesessenen Königsberger Kaufleute, aber auch im Haus des Fisch- und Getreidehändlers Sturgis. Er gehörte nicht zu den angesehenen Patriziern, sondern war vielmehr ein Emporkömmling, der mit kaufmännischem Fingerspitzengefühl und zähem Fleiß zu Wohlstand und Reichtum gekommen war. Zwar hatte man ihm einen Bauplatz im vornehmen Patrizierviertel versagt, doch sein neuerbautes, großes Haus am Roßgärtner Markt hielt jedem Vergleich stand.
Nur eines ärgerte den Besitzer: Wenig entfernt von seinem Grundstück lag ein Armen- und Siechenheim. Dicht bei seinem Gartenzaun verlief der schmale Fußweg, den die Armenhäusler benutzten, wenn sie Besorgungen in der Stadt machten oder am Sonntag den Gottesdienst besuchen wollten.
Zwar belästigten sie den Kaufmann nie, aber Sturgis ärgerte sich über den Anblick der armseligen Gestalten und beschloss, Abhilfe zu schaffen. Findig wie er war, kaufte er die lange, breite Wiese, über die der Pfad führte, und legte einen herrlichen Park an. Er umgab ihn mit einem Zaun, schloss ihn nach außen durch ein prächtiges Tor und auf der Rückseite durch eine kleine verriegelte Pforte ab. Nun war den Armenhäuslern der Weg versperrt und der Umweg zur Stadt war für die meisten von ihnen weit und beschwerlich. So klagten sie Pfarrer Weissel ihr Leid und baten um Rat und Hilfe.
Sollte es Gott nicht möglich sein, dass der reiche Mann das Tor seines Herzens öffnete, damit die Barmherzigkeit Einzug halten konnte? War es nicht so, dass der Name von Kaufmann Sturgis in Sammellisten in der Regel hinter hohen Summen zu finden war? Zeigte er sich nicht besonders freigebig, wenn Spender und Betrag öffentlich bekanntgegeben wurden? Auch hatte er stets eine großzügige Hand, wenn in der Adventszeit der Kurrenden-Chor vor den Häusern der Wohltäter und Spender seine Lieder erklingen ließ.
Doch in diesem Jahr war es anders. Das verschlossene Tor war Grund für die abweisende Haltung, mit der man Herrn Sturgis gegenüberstand. Man wollte dieses Jahr nicht vor dem Haus des Getreidehändlers singen. Weissel aber gab zu bedenken: „Ich meine, wir würden Advent und Weihnachten nicht richtig feiern können, wenn wir den reichen Mann ausschlössen. Unser Erlöser geht an keinem Haus und an keinem Herzen vorüber! Wollen wir ihm nachfolgen oder nicht?“
Der Chorleiter, ein junger Student, wurde nachdenklich. Aber würden sich die Chormitglieder überreden lassen? Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss. Pfarrer Weissel selbst würde die Sänger begleiten. Doch welches Lied sollte bei Sturgis erklingen? Da zog Georg Weissel die Schublade seines Tisches auf und entnahm ihr ein Blatt, dicht beschrieben mit Versen.
Schweigend und sichtlich ergriffen las der junge Student die Verse: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit ...“ – „Wundervoll“, rief er mit Begeisterung aus. Dieses Lied sollte in dieser Adventszeit zum ersten Mal erklingen, freilich zunächst nach einer provisorischen Melodie. Später würde sich sicher ein Komponist finden, der eine gute Melodie schaffen würde.
Am Nachmittag des Vierten Advent versammelten sich die Alten und Siechen zur Weihnachtsfeier der Kirchengemeinde in der „Alt-Rossgärtschen Kirche“. Die Weihnachtsfeier wurde auch in diesem Jahr wieder durch die Spenden der reichen Handelsherren ermöglicht. Hinterher sollte der Chor noch die Wohltäter mit Weihnachtsliedern erfreuen, die bislang noch nicht besucht worden waren. So formierte sich ein seltsamer Zug, voraus Pfarrer Weissel, gefolgt von den Sängern, danach die Alten und die an Stöcken und Krücken humpelnden Siechen.
Sturgis saß währenddessen allein in seinem großen Zimmer. Der Tisch war festlich geschmückt und bedeckt mit erlesenen Esswaren. So wollte er durch seine Großzügigkeit die aufgebrachten Gemüter besänftigen. Und nun kamen sie: Pfarrer, Chor und dahinter die Alten und Krüppel. Entsetzt beobachtete Sturgis, wie der seltsame Zug an den weitgeöffneten Türen seines Hauses vorüber zog. Wollte man ihn kränken?
Doch nein, jetzt machten sie Halt, geradewegs vor dem prächtigen Tor seines Parks. Ob sie dort singen wollten? Zögernd verließ Sturgis das Haus und ging durch den Garten bis zu dem Tor, das in den Park führte.
Da begann Pfarrer Weissel seine Ansprache. Er sprach vom König aller Könige, der auch heute noch vor verschlossenen Herzenstüren wartet und Einlass begehrt, auch bei Kaufmann Sturgis. „Ich flehe euch an“, fuhr Weissel fort, „öffnet nicht nur dieses sichtbare Tor, sondern auch das Tor eures Herzens und lasst den König ein, ehe es zu spät ist.“ Darauf wandte er sich um und wies auf die Schar der Alten, die ihnen gefolgt waren.
In diesem Augenblick begann der Chor zu singen: „Macht hoch die Tür; die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit ...“ Sturgis schien es, als höre er einen Engelchor. Tief drangen die Worte in sein Herz ein. Langsam näherte er sich dem großen Tor, griff bei der zweiten Strophe mit zitternder Hand in die Tasche, holte den Schlüssel heraus und öffnete weit die schweren Eisenflügel.
Pfarrer Weissel trat ein, nach ihm der Chor und die Alten und Armen. Sie zogen singend durch den Park bis zu der kleinen Pforte. Sturgis öffnete auch diese weit und verkündete, dass von nun an Tor und Tür geöffnet bleiben sollten, um dem König aller Könige Einlass zu gewähren Darauf lud er alle in sein Haus ein, auch die Alten, deren Anblick er bisher kaum ertragen konnte. Er selbst aber hatte strahlende Augen wie ein Kind am Weihnachtsabend.
Dann saß er neben dem Pfarrer und bat ihn, die Strophen des neuen Liedes als Erinnerung an diesen Tag in sein Gesangbuch einzuschreiben. Diese Bitte wurde ihm gerne gewährt. Doch auch Pfarrer Weissel hatte einen Wunsch. Er bat den Kaufmann, in diesem Lied die für ihn wichtigste Zeile zu unterstreichen. Der reiche Mann brauchte nicht lange zu überlegen. Ohne zu zögern ergriff er die Feder und unterstrich den ersten Satz der fünften Strophe: „Komm, o mein Heiland, Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist.“ Der Weg durch den Park aber wurde fortan der „Advents- oder Weihnachtsweg“ genannt.
1. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit;
es kommt der Herr der Herrlichkeit,
ein König aller Königreich,
ein Heiland aller Welt zugleich,
der Heil und Leben mit sich bringt;
derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott, mein Schöpfer reich von Rat.
2. Er ist gerecht, ein Helfer wert;
Sanftmütigkeit ist sein Gefährt,
sein Königskron ist Heiligkeit,
sein Zepter ist Barmherzigkeit;
all unsre Not zum End er bringt,
derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott, mein Heiland groß von Tat.
3. O wohl dem Land, o wohl der Stadt,
so diesen König bei sich hat.
Wohl allen Herzen insgemein,
da dieser König ziehet ein.
Er ist die rechte Freudensonn,
bringt mit sich lauter Freud und Wonn.
Gelobet sei mein Gott, mein Tröster früh und spat.
4. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit,
eu’r Herz zum Tempel zubereit’.
Die Zweiglein der Gottseligkeit
steckt auf mit Andacht, Lust und Freud;
so kommt der König auch zu euch,
ja, Heil und Leben mit zugleich.
Gelobet sei mein Gott, voll Rat, voll Tat, voll Gnad.
5. Komm, o mein Heiland Jesu Christ,
meins Herzens Tür dir offen ist.
Ach zieh mit deiner Gnade ein;
dein Freundlichkeit auch uns erschein.
Dein Heilger Geist uns führ und leit
den Weg zur ewgen Seligkeit.
Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Preis und Ehr.
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