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Das Engelshaar
Brigitte Kemptner
Das Licht in dem kleinen, schäbigen Häuschen am Rande des Dorfes wurde früh gelöscht, um Strom zu sparen. Es war noch nicht einmal sieben Uhr abends, als draußen dicke Schneeflocken vom Himmel fielen und die kalte Erde bedeckten. Noch zwei Tage bis Heiligabend. Im einzigen warmen Raum des Häuschens, der Küche, zündete Karina ein paar Kerzen an, die sie aus Wachsresten selbst hergestellt hatte. Sie spendeten genug Helligkeit, um ihren beiden Kindern Mara und Lara eine Weihnachtsgeschichte vorzulesen.
Die Mädchen hörten aufmerksam zu und nachdem Karina zu Ende gelesen hatte, schloss sie das Buch und erhob sich. „Jetzt mache ich uns noch ein Stück Brot und einen Becher warme Milch, dann geht ihr schlafen“, sagte sie mit liebevoller Stimme. Eine halbe Stunde später lagen die Mädchen dicht aneinandergekuschelt in dem engen Bett, und die Augen fielen ihnen schon nach wenigen Minuten zu. Die junge Frau trat an das Küchenfenster und schaute in die Dunkelheit. Es schneite immer noch, und sie hoffte, dass Johannes ohne große Schwierigkeiten den weiten Weg nach Hause schaffte. Da die Familie arm war, arbeitete die junge Mutter tagsüber als Hausgehilfin bei verschiedenen Familien. Johannes, ihr Mann, verdiente nur einen geringen Lohn als Nachtwächter in einer Lagerhalle. Doch das Geld reichte nicht aus, und so freuten sie sich über jede Gabe, die ihnen barmherzige Mitmenschen zukommen ließen.
Die beiden Mädchen, Mara und Lara, hatten keine Freunde unter den anderen Kindern der Gemeinde. Weil sie immer in geflickten, abgetragenen und schäbigen Kleidern herumliefen, mussten sie oft bösartige Hänseleien und Schimpfwörter über sich ergehen lassen. Aber trotz all dieser Armut hielten die vier Menschen fest zusammen und freuten sich, wie jedes Jahr, auf das Weihnachtsfest. Große Geschenke würde es allerdings auch heuer keine geben, doch mit wenigen Münzen kaufte Karina Dinge, von denen der handwerklich sehr begabte Vater die tollsten Sachen anfertigen konnte. Außerdem, so dachte sie bei sich, gibt die Natur das ganze Jahr über Vieles her und zudem umsonst.
Am nächsten Tag schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, doch es war eiskalt. Karina saß mit ihren Kindern in der warmen Küche, während der Vater, erst gegen Morgen heimgekehrt, im kalten Schlafzimmer nebenan noch tief schlummerte. Später spielten Mara und Lara im Schnee, und die Mutter bereitete das karge Mittagessen vor, damit es Johannes für seine Kinder und sich nur noch kurz erwärmen musste. Anschließend ging sie arbeiten. Karina tat es immer wieder in der Seele weh, die beiden fünf- und sechsjährigen Töchter allein zu lassen und war froh, dass ab und zu die freundliche alte Dame aus der Nachbarschaft nach ihnen sah, bis Johannes ausgeschlafen hatte. Es dämmerte schon, als Karina wieder nach Hause kam. Die Kerzen brannten bereits und sie wunderte sich sehr darüber. „Man hat uns den Strom abgestellt“, begrüßte Johannes sie. Deshalb die Kerzen, dachte Karina traurig. Glücklicherweise war ein größerer Vorrat davon vorhanden. Da Karina keinen Tee zum Abendbrot kochen konnte, erwärmte sie die Milch, die ihr die nette Frau aus dem Lebensmittelladen geschenkt hatte, auf der Feuerstelle. Wie lange wohl der Holzvorrat reichen mag? fragte sie sich.
Nachdem der Vater zur Arbeit aufgebrochen war, baten die Kinder ihre Mutter, ihnen eine neue Geschichte aus dem Weihnachtsbuch vorzulesen. Jedoch es kam nicht dazu, denn ein lautes Klopfen an der Haustür war zu hören. Die drei Menschen blickten sich erschrocken an. Wenn das nur nicht der Hausvermieter ist, dachte die junge Frau mit Entsetzen. Wieder klopfte es. „Willst du nicht aufmachen, Mami?“, drang Maras Stimme an ihr Ohr. Die Mutter erhob sich und wenig später öffnete sie mit klopfendem Herzen. Draußen in der Kälte stand nicht, wie vermutet, der Vermieter, sondern ein junges Mädchen, eingehüllt in ein dunkles, bis zu den Knöcheln reichendes Cape, mit Kapuze.
„Guten Abend, habt ihr vielleicht ein warmes Plätzchen für mich? Ich komme von weit her und meine Füße sind schon ganz durchgefroren.“ Mara, Lara und die Mutter blickten gleichzeitig auf die kleinen, nackten Füße, die in Sandalen steckten und Karina fand es recht seltsam, dass jemand zu dieser Jahreszeit noch offene Schuhe trug. Sie gaben die Tür frei, damit die späte Besucherin eintreten konnte. und führten sie in die Küche, wo es angenehm warm war. Das Mädchen schob die Kapuze von ihrem Kopf und eine Flut langer blonder Haare ergoss sich über ihre Schultern. Die beiden Kinder sahen sie verwundert an und waren von ihrem Liebreiz gleich gefangen.
„Sie sieht aus wie der Engel in unserem Weihnachtsbuch“, flüsterte Mara ihrer Schwester zu. „Quatsch“, erwiderte Lara, „Engel haben doch Flügel und sie nicht.“ Das junge Mädchen lächelte den Kindern freundlich zu und sagte: „Mein Name ist Anna, und wie heißt ihr?“ Die Beiden stellten sich vor und gingen daraufhin in ihre kleine Spielecke. Sie tuschelten miteinander. Karina bat ihren Gast, am Küchentisch Platz zu nehmen, nachdem sie ein paar warme, selbst gestrickte Socken geholt hatte. Diese reichte sie Anna. „Die Wolle kratzt zwar etwas, aber die Füße werden gleich warm“, sagte Karina und blickte zu ihren Kindern, die jetzt in ihrer Ecke miteinander spielten.
Ein feuerfestes Gefäß, gefüllt mit Milch stand kurze Zeit später auf dem Ofen und als sie warm genug war, tranken alle einen Becher. Dazu aßen sie von dem leckeren Kuchen, den die nette alte Dame aus der Nachbarschaft ihnen am Mittag vorbeigebracht hatte. Karina hielt es für das Beste, wenn Anna bei ihnen die Nacht verbrachte und bot ihr das Bett der Kinder an. „Die Beiden können bei uns schlafen“, meinte die junge Frau. Doch Anna schüttelte den Kopf. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Die Kinder brauchen ihr Bett. Ich lege mich auf die Bank hier in der Küche. Es macht mir wirklich nichts aus.“ Karina merkte, dass Anna sich keineswegs umstimmen ließ und gab nach.
Damit es Anne nicht ganz so unbequem auf der harten Bank hatte, legte die Hausherrin eine Wolldecke darauf und gab ihr noch eine zum Zudecken. Bevor die Kinder allerdings ins Bett gingen, wollten sie unbedingt einmal Annas Haare anfassen. Karina entschuldigte sich für diese recht außergewöhnliche Bitte ihrer Sprösslinge, doch das junge Mädchen lächelte nur und meinte: „Natürlich dürfen die Kinder es anfassen.“ Und zu den Mädchen gewandt fragte sie: „Habt ihr denn noch nie solche Haare gesehen?“ Mara und Lara schüttelten ihre Köpfe. „Nein“, ertönte es einstimmig. Vorsichtig griffen ihre Hände in das Goldhaar des Mädchens. „Es fühlt sich an wie Engelhaar“, meinte Mara und Lara stimmte ihr zu. „So weich und zart, Mami, wie in den Weihnachtsgeschichten, die du uns vorliest.“ Wenig später lagen die Zwei im Bett. An Schlaf war allerdings noch nicht zu denken, denn die junge Anna mit dem Engelshaar ging ihnen nicht aus dem Sinn.
Heiligabend! Johannes war in der Nacht etwas früher heimgekehrt und saß mit seiner Familie beim Frühstück. Es fiel nicht sehr üppig aus, und trotzdem teilten sie es mit ihrem Gast, Anna. Karina arbeitete an diesem Tage nicht. Zwar gab es in ihrem Hause keine großen Weihnachtsvorbereitungen zu treffen, trotzdem wollte sie den Kindern das Fest so schön wie nur irgend möglich machen. Johannes holte frische Tannenzweige aus dem Wald, und Karina bastelte einen schönen Kranz, verzierte ihn mit Tannenzapfen, kleinen Figuren, die ihr Mann aus Holzstückchen schnitzte, Kastanien, die die Kinder schon im Herbst gesammelt hatten und getrockneten Blüten. Sie befestigte die Kerzen und stellte das fertige Werk auf den Küchentisch.
So verging der Vormittag, und Anna machte keinerlei Anstalten, sich zu verabschieden. Die Kinder schwirrten um sie herum und waren ganz ausgelassen und fröhlich. Das junge Mädchen erzählte ihnen eine Geschichte und sie sangen ein Lied miteinander. Zur Mittagszeit kam die nette, alte Dame aus der Nachbarschaft vorbei und brachte ihnen einen Topf mit dampfender Hühnersuppe. Sie wünschte ihnen ein frohes Fest und sagte, dass sie mit ihren Kindern zusammen feierte. Zu fünft machten sie sich über sie Suppe her und bald war der Topf bis auf den letzten Tropfen leer. Am Nachmittag kam das Unheil in Gestalt des Vermieters. Er fand es nicht einmal für nötig, der Familie frohe Weihnachten zu wünschen, sondern ging sofort auf sein Ziel los. „Gleich nach den Feiertagen räumen Sie das Haus, ich habe schon neue Mieter dafür. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden.“ Ohne die Familie noch eines Blickes zu würdigen, wollte er sich zur Tür abwenden. Doch da trat Anna vor und hinderte ihn am Gehen.
„Was gibt’s denn noch?“, brummte er unfreundlich, doch schon im nächsten Augenblick brachte er kein Wort mehr über seine Lippen. „Schämen Sie sich denn nicht, arme Leute, die nichts haben, außer einem guten Herzen an einem Tag wie heute des Hauses zu verweisen? Haben Sie keine Seele in der Brust? Haben Sie niemals über den Sinn der Weihnachtszeit nachgedacht? Was sind Sie nur für ein Mensch, der sich am Geburtstag des Heilands so unmenschlich zeigt?“ Anna hatte mit ruhiger, fast sanfter Stimme gesprochen. Karina, Johannes und die Kinder standen nur da und schauten sie an. Der Vermieter brachte noch immer kein Wort heraus. Wie gebannt starrte er das engelhafte Wesen an, bis er plötzlich zusammenzuckte und mit gesenktem Kopf das Haus verließ. Er murmelte noch etwas in seinen Bart, das man als Frohe Weihnachten hätte deuten können, aber sicher war sich niemand.
Anna schaute zuerst die Kinder an, strich ihnen übers Haar und sagte zu Karina und Johannes gewandt: „Ihr wart gestern die Einzigen, die mich einließen. Überall wo ich anklopfte, wurde ich abgewiesen. Das werde ich niemals vergessen. Vergelt´s Gott. Nun wünsche ich euch ein frohes Weihnachtsfest.“ Anna fuhr sich durchs Haar und hielt plötzlich ein paar Seidenfäden in der Hand. Sie reichte diese Karina. „Für jedes dieser Haare habt ihr einen Wunsch frei, doch gebt Acht, dass ihr in eurer Freude darüber nicht übermütig werdet und den Blick für das Wesentliche verliert. Das müsst ihr mir versprechen.“ Sie brachten alle Vier keinen einzigen Ton heraus und nickten nur. Anne ging zur Tür und öffnete sie. Draußen brach gerade die Dämmerung herein. „Lebt wohl!“, rief sie noch einmal zurück, dann hatte die aufkommende Dunkelheit sie verschluckt. Karinas Knie zitterten mit einem Male und sie musste sich setzen. Sie blickte zu ihrer Hand ‚Engelshaar’, dachte sie beim Anblick der seidenen Fäden und für ein paar Minuten herrschte Schweigen.
„Mami, Mami!“, hörte sie wenig später die Kinder rufen. „Überall liegen solche Haare, und jetzt, hörst du es? Irgendwo läutet ein Glöckchen.“ Mara und Lara lauschten, und da hörten es auch die Eltern: Das feine Klingen eines Glöckchens. „Was ist das?“, wollte Mara wissen. Karina lächelte. „Anna ist ein Engel. Wisst ihr, Kinder, immer dann, wenn ein Glöckchen klingelt, bekommt ein Engel seine Flügel.“ - „Siehst“, sagte Mara, „ich habe es doch gleich gewusst, dass Anna ein Engel ist. Aber warum hatte sie keine Flügel, als sie hier war?“ Karina lächelte immer noch: „Anna hat uns beschenkt und dafür wurde sie mit Flügeln belohnt.“ Die Kinder hatten verstanden. Es war wohl das schönste Weihnachtsfest seit Jahren, das in dem kleinen, schäbigen Häuschen am Rande des Dorfes gefeiert wurde.
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